Crydee

 

Martin duckte sich.

Mit einer Geste bedeutete er den Männern hinter ihm, sie sollten ruhig sein, während er nach Bewegungen im dichten Unterholz lauschte. Es war kurz vor Sonnenuntergang, und eigentlich hätten schon die ersten Tiere am Rande des Teiches auftauchen müssen. Doch etwas hatte das Wild verscheucht. Martin wollte wissen, was. Abgesehen von den Vögeln über ihnen herrschte Schweigen im Walde.

Im Gebüsch raschelte es.

Ein Hirsch machte einen Satz auf die Lichtung. Martin sprang rechts an ihm vorbei, um dem Geweih und den Hufen des Tieres auszuweichen, das verängstigt an ihm vorbeischoß. Martin konnte hören, wie seine Gefährten ebenfalls zur Seite hasteten, um nicht von dem fliehenden Hirsch niedergetrampelt zu werden. Ein tiefes Knurren ertönte aus der Richtung, aus der der Hirsch gekommen war. Was auch immer ihn aufgescheucht hatte, es kam jedenfalls durch das Unterholz auf sie zu. Martin wartete mit aufgelegtem Pfeil.

Der Bär trat aus dem Dickicht. Zu einer Zeit, in der er eigentlich wohlgenährt sein und vor Kraft strotzen sollte, erschien das Tier schwach und mager, so dünn, als wäre es gerade aus dem Winterschlaf erwacht. Martin sah sich den Bär genau an, der sich jetzt zum Wasser hinunterbeugte. Eine Verletzung ließ das Tier hinken, schwächte es und machte es ihm schwer, die Nahrung zu finden, die es brauchte. Vor zwei Nächten hatte der Bär einen Bauern zerfleischt, der seine Milchkuh verteidigen wollte. Der Mann war gestorben, und seitdem war Martin dem Bären auf der Spur. Er war ein bösartiger Einzelgänger und mußte getötet werden.

Das Getrappel von Pferdehufen hallte durch den Wald, und der gar hielt die Schnauze in die Luft und schnüffelte. Aus seiner Kehle löste sich ein fragendes Grunzen, als er sich auf die Hintertatzen stellte. Dann brüllte er wütend; er hatte Pferde und Menschen gewittert. »Verdammt«, sagte Martin. Er stand da und hielt den Bogen bereit. Zwar hatte er auf einen besseren Schuß gehofft, doch das Tier konnte sich jeden Moment umdrehen und fliehen.

Der Pfeil schnellte über die Lichtung und traf den Bären in die Schulter. Das war kein Schuß, der sofort tötete. Das Tier tapste nach dem Schaft, sein Knurren wurde zu einem blubbernden Stöhnen. Martin umrundete den Teich und zog sein Jagdmesser. Seine drei Gefährten waren ein Stück hinter ihm. Garret, der jetzt Jagdmeister von Crydee war, schickte seinen Pfeil, während Martin auf den Bären zurannte. Er traf das Tier in die Brust, wieder eine schwere, doch keinesfalls tödliche Wunde. Martin sprang den Bären an, der immer noch mit den Tatzen nach den Pfeilschäften langte, die aus seinem dichten Pelz ragten. Das lange Jagdmesser des Herzogs von Crydee traf das verwirrte Tier in die Kehle. Der Bär starb, noch während er zusammenbrach.

Baru und Charles liefen herbei; sie hielten die Bögen noch immer schußbereit. Charles - ein kleiner Kerl mit O-Beinen - trug dieselbe grüne Lederkleidung wie Garret: die Uniform der Förster in Martins Diensten. Baru - ein großer und muskulöser Mann - trug um die Schulter einen grün-schwarzen Tartan, der seine Hadati-Herkunft aus dem Clan der Eisenbergs bezeugte, dazu eine Lederhose und Hirschlederstiefel. Martin kniete sich neben das Tier. Er machte sich mit dem Messer an der Schulter des Bären zu schaffen und drehte den Kopf zur Seite, als ihm der süße Geruch der Verwesung aus der schwärenden Wunde entgegenschlug. Er richtete sich wieder auf und hielt eine blutige, eiterbedeckte Pfeilspitze hoch. Angewidert sagte er zu Garret: »Als ich noch Jagdmeister in den Diensten meines Vaters war, habe ich in schlechten Jahren oft ein wenig Wilderei zugelassen. Wenn Ihr jedoch den Mann findet, der diesen Bären angeschossen hat, dann will ich ihn am Galgen sehen. Und falls er irgend etwas von Wert besitzt, gebt Ihr es der Witwe des Bauern. Der Wilderer hat den Bauern auf dem Gewissen, als hätte er ihn mit dem Pfeil getroffen, und nicht den Bären.«

Garret sah sich die Pfeilspitze genau an. »Diese Pfeilspitze ist selbstgemacht. Seht Euch nur diesen seltsamem Grat an, der hier über die Pfeilspitze läuft, Hoheit. Der Mann, der die gegossen hat, feilt die Spitzen nicht. Er ist bei der Herstellung von Pfeilen schlampig wie auf der Jagd. Sollten wir irgendwo einen Köcher mit solchen Pfeilen finden, haben wir unseren Mann. Ich werde den Fährtenlesern Bescheid geben.« Dann meinte der Jagdmeister mit dem langen Gesicht mißbilligend: »Wenn Eure Hoheit den Bären erreicht hätte, bevor ich ihn getroffen habe, hätte der Wilderer vielleicht einen zweiten Toten auf dem Gewissen gehabt.«

Martin lächelte. »Ich habe nicht daran gezweifelt, daß Ihr Euer Ziel treffen würdet, Garret. Ihr seid der einzige Mann, den ich kenne, der besser schießt als ich. Das ist einer der Gründe, warum Ihr mein Jagdmeister seid.«

Charles sagte: »Und weil er der einzige Fährtenleser ist, der mit Euch Schritt halten kann, wenn Ihr auf der Jagd seid.«

»Ihr könnt wirklich einen ganz schönen Schritt vorlegen«, stimmte Baru zu. »Nun«, meinte Garret, den Martins Antwort noch nicht völlig beschwichtigt hatte, »wir hätten vielleicht besser getroffen, wenn der Bär nicht geflohen wäre.«

»Vielleicht, vielleicht auch nicht. Ich wollte ihn lieber hier auf der Lichtung stellen, wo Ihr drei dicht hinter mir wart, als ihn selbst mit drei Pfeilen im Pelz - durch das Unterholz zu verfolgen.« Er zeigte auf das Dickicht vor ihnen. »Hätte ein wenig eng werden können da drin.«

Garret blickte zu Charles und Baru. »Darüber will ich nicht streiten, Euer Hoheit.« Und dann fügte er hinzu: »Obwohl es wirklich ein bißchen eng hätte werden können.«

Aus der Nähe hörten sie jemanden rufen. Martin stand auf. »Seht doch mal nach, wer da diesen Lärm macht. Der hätte uns beinahe unsere Beute gekostet.« Charles eilte davon.

Baru betrachtete den toten Bär und schüttelte den Kopf. »Der Mann, der dieses Tier verwundet hat, ist kein Jäger.«

Martin ließ den Blick über den Wald schweifen. »Ich vermisse das alles hier, Baru. Ich könnte dem Wilderer fast verzeihen, weil er mir eine Entschuldigung geliefert hat, der Burg endlich einmal zu entkommen.«

Garret sagte: »Eine schlechte Entschuldigung, mein Lord. Dem Gesetz nach hättet Ihr diese Sache mir und meinen Fährtenlesern überlassen müssen.«

Martin lächelte: »Darauf wird Fannon auch bestehen.«

Baru sagte: »Ich kann Euch verstehen. Seit fast einem Jahr habe ich zuerst bei den Elben und jetzt bei Euch gelebt. Ich vermisse die Hügel und Wiesen des Hochlands von Yabon.«

Garret sagte nichts. Sowohl er als auch Martin wußten, warum der Hadati nicht in seine Heimat zurückkehrte. Sein Dorf war von dem Hauptmann der Moredhel in Schutt und Asche gelegt worden. Zwar hatte er an Murad blutige Rache genommen und ihn getötet, doch das hatte ihm das Heim trotzdem nicht wiedergebracht. Eines Tages würde er vielleicht ein anderes Hadatidorf finden, in dem er sich niederlassen konnte, für den Moment hatte er sich allerdings entschlossen, in der Fremde zu bleiben. Nachdem er in Elvandar von seinen Wunden genesen war, hatte er sich zunächst einmal nach Crydee zu Martin aufgemacht.

Charles tauchte mit einem Soldaten aus der Burg wieder auf Der Soldat salutierte und sagte: »Schwertmeister Fannon ersucht um Eure sofortige Rückkehr, Hoheit.«

Martin wechselte rasch einen Blick mit Baru. »Was mag da wieder im Gange sein?«

Baru zuckte mit den Schultern.

Der Soldat sagte: »Der Schwertmeister hat sich außerdem die Freiheit genommen, Euch Reittiere zu schicken, Euer Hoheit. Er wußte, daß Ihr zu Fuß aufgebrochen wart.«

Martin sagte: »Führt uns zu ihnen«, und sie folgten dem Soldaten zu den Pferden. Als sie aufgesessen waren und sich auf den Weg nach Crydee machten, erfüllte den Herzog plötzlich eine große Unruhe.

 

Fannon wartete bereits auf sie. Martin stieg ab und fragte: »Was gibt es, Fannon?« Er schlug sich den Straßenstaub von seinem ledernen Jagdrock.

»Seine Hoheit haben vielleicht nicht daran gedacht, daß Lord Miguel heute nachmittag ankommen wird.«

Martin warf einen Blick auf die untergehende Sonne. »Dann kommt er offenbar zu spät.«

»Sein Schiff wurde bereits vor einer Stunde bei Seglers Gram gesichtet. Innerhalb der nächsten Stunde wird es vermutlich den Leuchtturm bei Langenend passieren und im Hafen einlaufen.«

Martin lächelte seinen Schwertmeister an. »Ihr habt natürlich recht, ich hatte es ganz vergessen.« Während er die Treppen hinaufeilte, rief er Fannon zu: »Begleitet mich und unterhaltet Euch mit mir, während ich mich umkleide.«

Martin rannte fast zu seinen Gemächern, die einst seinem Vater, Lord Borric, gehört hatten. Diener hatten ein heißes Bad vorbereitet, und Martin entledigte sich seiner Jagdkleidung. Er nahm die stark duftende Seife und den Bimsstein und sagte zu dem Diener: »Ich brauche viel frisches kaltes Wasser. Diesen Geruch würde meine Schwester vielleicht mögen, aber meine Nase verträgt ihn nicht.« Der Diener lief los, um weiteres Wasser zu holen. »Nun, Fannon, was führt eigentlich den erlauchten Herzog von Rodez quer durch das Königreich zu uns?«

Fannon setzte sich auf ein kleines Sofa. »Er reist einfach nur gern während des Sommers. Das ist gar nicht so ungewöhnlich, Euer Hoheit.«

Martin lachte. »Fannon, wir sind allein. Ihr braucht mir nichts vorzumachen. Er wird doch zumindest eine Tochter im heiratsfähigen Alter bei sich haben.«

Fannon seufzte. »Zwei. Miranda ist zwanzig, und Inez fünfzehn. Beiden sagt man nach, daß sie Schönheiten sind.«

»Fünfzehn. Bei den Göttern, sie ist ja noch ein Kind!«

Fannon lächelte kläglich. »Nach dem, was ich erfahren habe, gab es des Kindes wegen schon zwei Duelle. Bedenkt, es sind Leute aus dem Osten.«

Martin ließ sich unter Wasser gleiten. Als er wieder auftauchte, sagte er: »Dort drüben gehen sie immer sehr früh in die Politik, nicht?«

»Seht doch, Martin, ob Ihr wollt oder nicht, Ihr seid der Herzog - und der Bruder des Königs. Ihr habt Euch noch nicht verheiratet. Würdet Ihr nicht in der abgelegensten Ecke des Königreiches leben, hättet Ihr seit Eurer Rückkehr nicht sechs, sondern sechzig Höflichkeitsbesuche bekommen.«

Martin verzog das Gesicht. »Wenn es dieses Mal wieder so wird wie beim letzten Mal, gehe ich zurück in die Wälder zu den Bären.« Zuletzt hatte ihm der Graf von Tarloff, ein Vasall des Herzogs von Ran, einen Besuch abgestattet. Seine Tochter war eigentlich recht charmant gewesen, doch sie hatte sich ein bißchen zu kokett benommen und dauernd gekichert, ein Zug, der Martin ganz nervös gemacht hatte. Er hatte das Mädchen mit dem vagen Versprechen verabschiedet, irgendwann einmal Tarloff zu besuchen. »Trotzdem«, meinte er, »sie war doch recht schön.«

 

»Schönheit ist nicht das Entscheidende, wie Ihr selbst ganz genau wißt. Im Osten schwelt es noch immer, obwohl nun fast zwei Jahre seit dem Tod von König Rodric vergangen sind. Irgendwo dort draußen versteckt sich Guy du Bas-Tyra und treibt Dinge, von denen nur die Götter wissen. Einige seiner Anhänger warten nur ab, wer zum nächsten Herzog von Bas-Tyra ernannt wird Caldric ist tot, und das Amt des Herzogs von Rillanon ist ebenfalls noch nicht besetzt worden. Der Osten ist wie ein Stapel Brennholz, und wenn der König den falschen Scheit herauszieht bricht alles über ihm zusammen. Lyam ist gut beraten, wenn er auf Tully hört, und wartet, bis er selbst Söhne und auch Neffen hat. Dann kann er seine eigenen Verbündeten in diese Ämter einsetzen. Und Ihr tätet gut daran, wenn Ihr die schwierigen Belange der Königsfamilie nicht aus den Augen verlieren würdet, Martin.«

»Jawohl, Schwertmeister«, erwiderte Martin, schüttelte jedoch bedauernd den Kopf. Seit Lyam ihn zum Herzog von Crydee ernannt hatte, war Martin ein großer Teil seiner persönlichen Freiheit verlorengegangen, und wie es aussah, stand ihm das Schlimmste noch bevor.

Drei Diener kamen mit Eimern voller kaltem Wasser herein. Martin stand auf und ließ sieh das Wasser über den Kopf schütten. Zitternd hüllte er sich in ein weiches Badetuch, und nachdem die Diener wieder gegangen waren, meinte er zu Fannon: »Was Ihr sagt, ist offensichtlich richtig, doch ... nun, es ist noch nicht einmal ein Jahr vergangen, seit Arutha und ich vom Moraelin zurückgekehrt sind. Davor habe ich diese lange Reise durch den Osten gemacht. Kann ich nicht wenigstens ein paar Monate in aller Ruhe zu Hause leben?«

»Habt Ihr doch - letzten Winter.«

Martin lachte. »Sehr gut. Aber mir kommt es vor, als würde einem Provinzherzog ein größeres Interesse entgegengebracht, als er es verdient.«

Fannon schüttelte den Kopf. »Ein größeres Interesse, als es der Bruder des Königs verdient?«

»Keiner aus meiner Linie könnte jemals wieder Anspruch auf die Krone erheben, selbst wenn nicht noch drei oder vier andere in der Nachfolge vor mir stünden. Ihr wißt doch, ich habe darauf auch im Namen meiner Nachkommen verzichtet.«

»Ihr seid kein einfacher Mann, Martin. Ihr braucht mir gegenüber nicht den Hinterwäldler spielen. Am Tage von Lyams Krönung mögt Ihr gesagt haben, was Ihr wollt, doch sollte eines Tages einer Eurer Erben in die entsprechende Situation kommen, wird Euer Gelöbnis keinen Pfifferling mehr wert sein, wenn eine Gruppe in der Versammlung der Lords ihn zum König machen will.«

Martin zog sich an. »Ich weiß, Fannon. Das geschah damals nur, damit niemand in meinem Namen Lyam die Gefolgschaft verwehrt. Vielleicht habe ich den größten Teil meines Lebens in den Wäldern verbracht, doch am Abend habe ich stets mit Euch, Tully, Kulgan und Vater an der Tafel gesessen. Da habe ich meine Ohren gespitzt und eine Menge gelernt.«

Es klopfte, und in der Tür erschien eine Wache. »Ein Schiff mit der Flagge von Rodez hat Langenend passiert, Hoheit.«

Martin schickte die Wache mit einer Handbewegung nach draußen. Zu Fannon sagte er: »Ich glaube, wir sollten uns lieber beeilen, den Herzog und seine lieblichen Töchter kennenzulernen.« Er war mit dem Ankleiden fertig. »Die Töchter des Herzogs werden mich sicherlich genauestens in Augenschein nehmen und mir den Hof machen, Fannon, doch bei der Liebe und Geduld der Götter hoffe ich, daß keine von ihnen dauernd kichern muß.« Fannon nickte ihm voller Mitgefühl zu und verließ hinter Martin das Zimmer.

 

Martin lächelte bei Herzog Miguels Scherz über einen Lord aus dem Osten, dem Martin nur ein einziges Mal begegnet war. Die Schwächen des Mannes mochten für die Leute dort eine Quelle des Humors sein, doch Martin verstand den Witz nicht. Statt dessen warf er einen Blick auf die Tochter des Herzogs. Beide waren wirklich anziehend: Sie hatten feine Gesichtszüge, einen blassen Teint, fast schwarzes Haar und große dunkle Augen. Miranda hatte sich in ein Gespräch mit dem jungen Junker Wilfred vertieft, dem dritten Sohn des Barons von Carse. Der Junker war erst kürzlich an den Hof gekommen. Inez saß da und betrachtete Martin mit offenkundiger Wertschätzung. Martin merkte, wie ihm das Blut in den Kopf schoß, und er wandte seine Aufmerksamkeit wieder ihrem Vater zu. Es war nur zu deutlich, weshalb sie zum Anlaß für ein Duell zwischen hitzköpfigen jungen Männern geworden war. Martin wußte vielleicht nicht viel über Frauen, aber er war ein erfahrener Jäger, und er erkannte ein Raubtier, wenn er es vor Augen hatte. Dieses Mädchen mochte zwar erst fünfzehn Jahre alt sein, doch was die Höfe im Osten des Reiches anging, war es mit allen Wassern gewaschen. Es würde nicht mehr viel Zeit ins Land gehen, bis Inez sich einen der mächtigsten Männer als Gemahl angelte, daran zweifelte Martin nicht. Miranda war einfach nur eine schöne Hofdame, Inez hingegen zeigte eine gerissene Härte, die Martin nicht gerade attraktiv fand. Dieses Mädchen war auf jeden Fall gefährlich und hatte schon recht gut begriffen, wie man Männer um den Finger wickelte und ihnen seinen Willen aufzwang. Martin beschloß, diese Tatsache nicht aus den Augen zu verlieren.

Das Essen war eher still verlaufen, wie es Martins Gewohnheit entsprach. Morgen würden allerdings Jongleure und Sänger anwesend sein, denn zur Zeit hielt sich gerade eine Schauspielertruppe in der Gegend auf. Martin hatte nach seiner Reise durch den Osten nur noch wenig für förmliche Bankette übrig, doch ein bißchen Unterhaltung fand auch er amüsant. Dann eilte ein Diener in den Saal, umrundete den Tisch und ging zu Samuel, dem Leibwächter. Er flüsterte ihm etwas ins Ohr, woraufhin der Leibwächter zu Martin kam. Er beugte sich vor und meinte: »Es sind Tauben von Ylith angekommen, Euer Hoheit. Insgesamt acht Stück.«

Martin wußte Bescheid. Wenn es so viele Vögel waren, mußte die Nachricht von einiger Bedeutung sein. Normalerweise nahm man vielleicht zwei oder drei Tiere, da ein Vogel allein auf dem gefährlichen Flug über das Gebirge der Grauen Türme verlorengehen konnte. Sie mußten mit dem Wagen oder dem Schiff wieder zurückgebracht werden - und das dauerte Wochen -, deshalb setzte man sie gewöhnlich eher sparsam ein. Martin stand auf. »Wenn Euer Hoheit mich für einen Moment entschuldigen würden?« sagte er zum Herzog von Rodez. »Meine Damen?« Er verneigte sich vor den beiden Schwestern, dann folgte er dem Diener hinaus auf den Gang.

Im Vorraum des Bergfrieds traf er seinen Falkner, der sowohl für die Falken als auch für die Tauben zuständig war. Er hielt die Pergamente in der Hand, übergab sie Martin und zog sich zurück. Martin bemerkte, daß die winzigen Röllchen mit dem fürstlichen Wappen von Krondor versiegelt waren. Nur der Herzog selbst sollte sie öffnen. Martin sagte: »Ich werde sie in meinem Ratszimmer lesen.«

Als er die Röllchen dort genauer betrachtete, stellte er fest, daß jedes die Zahl Eins oder Zwei trug. Vier Paare. Die Nachricht war also viermal abgeschickt worden, damit sie ganz sicher vollständig ankam. Martin brach eines der Röllchen mit einer Eins auf, und als er die Nachricht las, wurden seine Augen größer, und er öffnete ein weiteres. Es war derselbe Text. Dann las er Nummer Zwei, und die Tränen traten ihm in die Augen.

Martin öffnete jedes Röllchen, hoffte noch eine andere Nachricht zu finden, die das bisher Gelesene als Mißverständnis aufklärte. Lange Zeit konnte er einfach nur so dasitzen, während sich in seinem Magen ein mulmiges Gefühl ausbreitete. Schließlich klopfte es an der Tür, und Martin sagte schwach: »Ja bitte?«

Die Tür ging auf, und Fannon trat ein. »Ihr seid schon vor über einer Stunde verschwunden -« Er stutzte, als er Martins abgespannten Gesichtsausdruck und seine geröteten Augen sah. »Was gibt es?«

Martin deutete nur mit der Hand auf die Zettel. Fannon las sie, taumelte zurück und mußte sich setzen. Eine ganze Weile lang verbarg er das Gesicht in den zitternden Händen. Beide Männer schwiegen. Dann sagte Fannon: »Wie konnte das nur geschehen?«

»Ich weiß es auch nicht. Die Botschaft sagt nur, es sei ein Meuchelmörder gewesen.« Martin ließ den Blick durch den Raum schweifen; jeder Stein in der Wand und jedes Möbelstück erinnerte ihn an seinen Vater, Lord Borric. Von der Familie war Arutha dem Vater am ähnlichsten gewesen. Martin liebte sie alle, doch der Bruder, den das Schicksal nach Krondor verschlagen hatte, war in vielerlei Hinsicht ein Spiegel seiner selbst gewesen. Sie hatten alle Dinge immer aus einer sehr ähnlichen Perspektive gesehen, und sie hatten eine Menge zusammen durchgemacht: Die Belagerung der Burg während des Spaltkrieges, als Lyam mit dem Vater fortgewesen war; die lange und gefährliche Suche nach Silberdorn, das sie vom Moraelin geholt hatten. Nein, in Arutha hatte Martin seinen engsten Freund gehabt. Von Elben unterrichtet, war Martin die Unausweichlichkeit des Todes bewußt, machte sich jetzt eine große Leere in ihm breit. Als er aufstand, erlangte er die Fassung zurück. »Ich sollte wohl besser Herzog Miguel unterrichten. Sein Besuch wird ziemlich kurz werden. Morgen brechen wir nach Krondor auf.«

 

Martin sah auf, als Fannon das Zimmer wieder betrat. »Wir brauchen die ganze Nacht und den Morgen, um die Vorbereitungen zu treffen, der Kapitän sagte jedoch, Euer Schiff könnte mit der Nachmittagsflut auslaufen.«

Martin gebot ihm mit einer Geste, Platz zu nehmen, und wartete eine Zeitlang, bis er sagte: »Wie konnte das nur geschehen, Fannon?«

Der Schwertmeister sagte: »Ich kann Euch das nicht beantworten, Martin.« Fannon dachte einen Moment lang nach, dann sagte er leise: »Ihr wißt, daß ich Euren Kummer teile. Das tun wir alle. Er und auch Lyam, sie waren beide wie meine eigenen Söhne.«

»Ich weiß.«

»Aber es gibt noch andere Angelegenheiten, die keinerlei Aufschub dulden.«

»Und die wären?«

»Ich bin alt, Martin. Gerade jetzt fühle ich plötzlich die Last des Alters schwer auf mir liegen. Die Nachricht von Aruthas Tod erinnert mich an meine eigene Sterblichkeit. Ich würde gern zurücktreten.«

Martin rieb sich das Kinn und dachte nach. Fannon war mittlerweile über die Siebzig hinaus, und waren die geistigen Fähigkeiten seines Stellvertreters auch unvermindert, fehlte es ihm doch an der körperlichen Kraft, die das Amt erforderte. »Ich

verstehe, was Ihr meint, Fannon. Wenn wir aus Rillanon zurück sind

Fannon unterbrach ihn. »Nein, Martin, das ist mir zu spät. Ihr werdet mehrere Monate unterwegs sein. Ich möchte, daß Ihr jetzt einen Nachfolger für mich benennt, damit ich seine Eignung für das Amt garantieren kann, wenn ich zurücktrete. Wenn Gardan noch hier wäre, hätte ich keinen Zweifel an einer schnellen Amtsübergabe. Doch Arutha hat ihn uns weggeschnappt« - die Augen des alten Mannes füllten sich mit Tränen - »und ihn zum Feldmarschall von Krondor gemacht, nun ...«

Martin sagte: »Ich verstehe. Wen habt Ihr denn im Sinn?« Martin hatte die Frage abwesend gestellt, er war viel zu sehr damit beschäftigt, seinen Kopf klar zu bekommen.

»Verschiedene Hauptmänner kämen in Frage, doch keiner von ihnen hat solche Fähigkeiten wie Gardan. Deshalb habe ich an Charles gedacht.«

Martin lächelte schwach. »Ich dachte, Ihr würdet ihm nicht trauen.«

Fannon seufzte. »Das ist lange Zeit her, und wir befanden uns damals im Krieg. Seitdem hat er seinen Wert Hunderte von Malen unter Beweis gestellt, und auf der Burg gibt es keinen furchtloseren Mann. Außerdem hatte der Tsurani in seiner Armee einen Rang inne, der ungefähr dem eines Leutnants entspricht. Zudem kennt er sich bestens in der Kriegsführung aus. Oft haben wir uns über die Unterschiede der Strategien der Tsurani und unserer eigenen unterhalten. Und eins weiß ich ganz gewiß: Hat er einmal etwas gelernt, vergißt er es nicht wieder. Er ist ein schlauer Mann und so viel wert wie ein Dutzend andere. Davon abgesehen respektieren ihn die Soldaten und werden ihm gehorchen.«

Martin erwiderte: »Ich werde es mir durch den Kopf gehen lassen und es heute nacht entscheiden. Was gibt es noch?«

Fannon schwieg eine Zeitlang, als fiele es ihm schwer, darüber zu reden. »Martin, Ihr und ich, wir sind uns nie sehr nahe gekommen. Als Euch Euer Vater in seine Dienste rief, spürte ich, so wie andere auch, an Euch etwas Fremdartiges. Ihr standet immer ein wenig außerhalb, und Ihr hattet diese seltsame Art der Elben. Heute weiß ich, dieses geheimnisvolle Etwas bestand teilweise in Eurer eigentümlichen Beziehung zu Borric. Ich habe Euch in gewisser Hinsicht mißtraut. Ich bedaure jetzt, so gedacht zu haben ... Nun, was ich eigentlich sagen wollte ... Ihr macht Eurem Vater alle Ehre.«

Martin holte tief Luft. »Ich danke Euch, Fannon.«

»Ich erzähle Euch das nur, damit Ihr verstehen könnt, was ich Euch als nächstes sage. Dieser Besuch von Herzog Miguel hat Euch vielleicht nur geärgert, doch langsam wird diese Sache äußerst dringlich. Wenn Ihr in Rillanon ankommt, müßt Ihr mit Vater Tully sprechen. Laßt ihn für Euch eine Gemahlin suchen.«

Martin warf den Kopf in den Nacken und lachte erbittert. »Wollt Ihr scherzen, Fannon? Mein Bruder ist tot, und ich soll mich auf Brautschau begeben?«

Fannon ließ sich von Martins Zorn nicht erschüttern. »Ihr seid nicht mehr der Jagdmeister von Crydee, Martin. Dann würde es niemanden scheren, ob Ihr jemals heiratet und Nachkommen in die Welt setzt. Doch jetzt seid Ihr der einzige Bruder des Königs. Und der Osten ist immer noch in Aufruhr. Es gibt keinen Herzog von Bas- Tyra, keinen von Rillanon und keinen in Krondor. Und es gibt auch keinen Prinzen mehr in Krondor.« Fannons Stimme klang erschöpft und aufgebracht. »Lyam sitzt auf einem wackeligen Thron, sollte Bas-Tyra es wagen, aus dem Exil zurück ins Königreich zu kommen. Die beiden Säuglinge bringen dem König für die Nachfolge von Arutha nichts. Aber er braucht Verbündete. Das meine ich. Tully wird wissen, welches Haus des Adels am dringendsten durch Heirat an das Königshaus gebunden werden muß. Und wenn es die Xanthippe von Miguel mit Namen Inez ist oder die kichernde Tochter von Tarloff, heiratet sie. Für das Wohl von Lyam und für das Wohl des Königreiches.«

Martin unterdrückte seinen Zorn. Fannon hatte ihn an einem wunden Punkt erwischt, auch wenn der Schwertmeister recht hatte, wie er zugeben mußte. In vielerlei Hinsicht war Martin ein Einzelgänger, den außer seinen Brüdern kaum jemand interessierte. Und mit Frauen war er noch nie besonders gut ausgekommen. Und jetzt sagte man ihm, er solle eine Fremde heiraten und seinen Bruder so politisch unterstützen. Dennoch sah er die Weisheit in Fannons Worten. Falls der verräterische Guy du Bas-Tyra immer noch seine Ränke schmiedete, war Lyams Krone in Gefahr. Aruthas Tod zeigte nur zu deutlich, wie schnell ein Herrscher das Leben verlieren konnte. Schließlich sagte Martin: »Ich werde auch darüber nachdenken, Fannon.«

Der alte Schwertmeister stand langsam auf. An der Tür wandte er sich noch einmal um. »Ich weiß, Ihr werdet es nicht zeigen, Martin, doch Ihr fühlt großen Schmerz. Ich wollte Euch nicht noch weitere Sorgen bereiten, doch was ich gesagt habe, mußte gesagt werden.« Martin konnte nur zustimmend nicken.

Fannon verließ ihn; und Martin saß allein in seinem Zimmer, und das einzige, was sich bewegte, waren die Schatten, die die flackernden Flammen in den Wandhaltern hervorriefen.

 

Martin beobachtete ungeduldig das hektische Treiben der Vorbereitungen für seine eigene Abfahrt und die des Herzogs von Rodez. Der Herzog hatte Martin zu sich an Bord eingeladen, doch Martin hatte sich mit einer dünnen Entschuldigung herausgeredet. Nur der offensichtliche Kummer über den Tod von Arutha hatte den Herzog veranlaßt, diese Abweisung nicht als ernsthafte Beleidigung aufzufassen.

Herzog Miguel und seine Töchter kamen für die Reise angekleidet aus ihrer Unterkunft. Die Mädchen konnten ihren Ärger über die so baldige Rückreise kaum verhehlen. Es würde ganze zwei Wochen dauern, bis sie in Krondor ankommen würden. Und dann müßte sich ihr Vater auch noch beeilen, damit er rechtzeitig zu Aruthas Staatsbegräbnis in Rillanon erscheinen konnte, an dem er als Mitglied des Hochadels teilzunehmen hatte.

Herzog Miguel, ein gutgekleideter, schlanker Mann mit feinen Manieren, sagte: »Es ist wirklich tragisch, daß wir Euer wunderbares Heim unter diesen traurigen Umständen verlassen, Euer Hoheit. Wenn ich mir erlauben darf, möchte ich Eurer Hoheit die Gastfreundschaft meines eigenen Heims anbieten, falls Euch nach dem Begräbnis Eures Bruders der Sinn nach ein wenig Ruhe steht. Rodez kann man von der Hauptstadt aus in einer kurzen Reise erreichen.«

Martin wollte sich im ersten Moment entschuldigen, doch dann erinnerte er sich an die Worte von Fannon und sagte: »Wenn es die Umstände und meine Zeit erlauben, würde ich mich glücklich schätzen, Euch zu besuchen. Ich danke Euch.« Er warf einen Blick auf die beiden Töchter und beschloß, falls Tully eine Verbindung zwischen Crydee und Rodez erwog, der stillen Miranda den Hof zu machen. Inez war einfach zuviel für einen einzigen Mann.

Der Herzog und seine Töchter fuhren in einem Wagen zum Hafen. Martin dachte an die Zeit zurück, als sein Vater der Herzog gewesen war. Niemand hatte damals in Crydee einen Wagen gebraucht, den man höchstens auf den Straßen des Herzogtums benutzen konnte, und die verwandelte der Regen, der vom Meer ans Land zog, immer wieder in Schlammlöcher. Doch nachdem im Westen die Zahl der Besucher stieg, hatte Martin einen bauen lassen. Die Damen aus dem Osten schienen in ihren höfischen Kleidern nicht gern auf dem Rücken eines Pferdes zu reisen. Carline war während des Spaltkriegs wie ein Mann geritten, in engen Hosen und Jagdrock. Zusammen mit Junker Roland war sie der reinste Schrecken ihrer Gouvernante gewesen. Martin seufzte. Keines der beiden Mädchen von Miguel würde je im Leben so reiten. Er fragte sich, ob es überhaupt eine Frau gab, die seine Vorliebe für das einfache Leben teilte. Vielleicht könnte er sich bestenfalls eine Frau wünschen, die diese Vorliebe bei ihm akzeptierte und sich nicht über seine lange Abwesenheit beschwerte, wenn er mal wieder auf der Jagd war oder seine Freunde in Elvandar besuchte.

Martins Gedanken wurden von einem Soldaten unterbrochen, der sich ihm zusammen mit dem Falkner näherte. Der Falkner hielt ein weiteres Pergament in der Hand. »Hoheit, das ist gerade angekommen.«

Martin nahm das Pergament entgegen. Darauf war das Siegel von Salador. Martin wartete noch, bis der Falkner wieder gegangen war, und öffnete das Röllchen dann. Höchstwahrscheinlich war es eine persönliche Nachricht von Carline. Er las sie. Dann las er noch einmal, faltete das Pergament nachdenklich zusammen und verstaute es in einem kleinen Beutel an seinem Gürtel. Nachdem er sich alles eine Weile lang durch den Kopf hatte gehen lassen, sprach er einen Soldaten an, der vor dem Bergfried auf seinem Posten stand. »Holt Schwertmeister Fannon.«

Innerhalb weniger Augenblicke war der Schwertmeister da. Martin sagte: »Ich habe darüber nachgedacht, und ich stimme Euch zu. Ich werde Charles die Stellung des Schwertmeisters anbieten.«

»Gut«, meinte Fannon. »Er wird das Angebot annehmen, hoffe ich.«

»Und während ich abwesend bin, werdet Ihr ihn in sein Amt einarbeiten.«

Fannon sagte: »Jawohl, Euer Hoheit.« Er wollte gehen, drehte sich jedoch noch einmal zu Martin um. »Euer Hoheit?«

Martin hielte inne, da er sich gerade auf den Weg zum Bergfried gemacht hatte. »Ja?«

»Ist alles in Ordnung mit Euch?«

Martin erwiderte: »Bestens, Fannon. Ich habe gerade eine Nachricht von Laurie bekommen. Carline und Anita geht es gut. Und jetzt fahrt mit Euren Geschäften fort.« Ohne ein weiteres Wort ging er zum Bergfried zurück und trat durch die großen Türen ein.

Fannon blieb noch einen Moment stehen. Martins Benehmen und der Tonfall seiner Stimme hatten ihn überrascht. Irgend etwas an seinem Auftreten war plötzlich höchst eigentümlich.

 

Schweigend sah Baru Charles in die Augen. Die beiden Männer saßen in Schneidersitz auf dem Boden. An Charles' linker Seite stand ein kleiner Gong, zwischen ihnen rauchte ein kleiner Weihrauchbrenner und füllte die Luft mit süßer Schärfe. Das Zimmer wurde von vier Kerzen erhellt. Die einzigen Möbel waren eine Matte, die Charles als Bett benutzte, eine kleine Holztruhe und ein Stapel Kissen. Beide Männer trugen einfache Gewänder. Jeder hatte quer über die Knie ein Schwert gelegt. Baru wartete, während Charles seine Augen auf einen unsichtbaren Punkt zwischen ihnen gerichtet hielt. Dann sagte der Tsurani: »Worin besteht der Wahre Weg.«

Baru antwortete: »Der Wahre Weg besteht darin, daß man den Verpflichtungen seinem Meister gegenüber nachkommt und daß man sich seinen Kameraden gegenüber treu verhält. Der Wahre Weg besteht - wenn man seinen Platz im Rad des Lebens berücksichtigt - darin, daß man die Pflicht über alles andere setzt.«

Charles nickte einmal kurz. »Was die Pflicht betrifft, ist der Kodex des Kriegers absolut. Pflicht steht über allem. Bis zum Tod.«

»Verstanden.«

»Was ist dann aber die Natur der Pflicht?«

Baru sprach leise. »Es gibt eine Pflicht gegenüber dem Herrn. Es gibt eine Pflicht gegenüber dem Clan und der Familie. Es gibt eine Pflicht gegenüber der eigenen Arbeit, die einen die Pflicht sich selbst gegenüber verstehen läßt. In der Summe ergeben sie eine Pflicht, die man niemals zur Zufriedenheit erfüllen kann, selbst nicht mit den Mühen eines ganzen Lebens, eine Pflicht, ein vollkommenes Leben zu führen, um auf dem Rad einen höheren Platz zu erreichen.«

Charles nickte. »So ist es.« Er nahm einen kleinen Filzhammer und schlug den Gong. Baru schloß in Meditation versunken seine Augen und lauschte dem verklingenden Ton. Als der Ton völlig verstummt war, sagte Charles. »Finde den Punkt, wo der Ton endet und die Stille beginnt. Dann sei ganz in diesem Moment, und du wirst dein geheimes Zentrum des Lebens entdecken, den vollkommenen Ort des Friedens in dir selbst. Und erinnere dich immer an die älteste Lektion der Tsurani: Pflicht ist das Gewicht aller Dinge, so schwer, wie eine Bürde jemals werden kann, doch der Tod ist nichts, er ist leichter als Luft.«

Die Tür ging auf, und Martin schlüpfte hinein. Beide, sowohl Baru als auch Charles, wollten aufstehen, doch Martin machte eine abwehrende Geste. Er kniete sich zwischen sie hin, und seine Augen fixierten den Weihrauchbrenner auf dem Boden. »Entschuldigt die Unterbrechung.«

»Keine Unterbrechung, Euer Hoheit«, erwiderte Charles.

Baru sagte: »Jahrelang habe ich die Tsurani bekämpft und habe sie als ehrenwerte Gegner kennengelernt. Jetzt erfahre ich mehr über sie. Charles hat mir einigen Unterricht über den Kodex des Kriegers zugestanden, den er mir erteilt, wie es bei seinem Volk üblich ist.«

Martin schien das nicht zu überraschen. »Und, habt Ihr viel gelernt?«

»Sie sind so wie wir«, meinte Baru und lächelte schwach. »Ich weiß nur wenig über diese Dinge, doch ich vermute, wir sind zwei Triebe der gleichen Wurzel. Sie folgen dem Wahren Weg und glauben an das Rad des Lebens, genauso wie das die Hadati tun. Wir, die wir in Yabon leben, haben viel aus dem Königreich übernommen, die Namen unserer Götter und das meiste unserer Sprache, doch wir haben uns noch einiges von unserer alten Art bewahrt. Es ist seltsam, bis die Tsurani kamen, wußten wir nicht, daß noch jemand unseren Glauben teilt.«

Martin sah Charles an. Der Tsurani zuckte leicht mit den Schultern. »Vielleicht finden wir nur in beiden Welten die ganze Wahrheit. Wer kann das sagen?«

Martin sagte: »Das hört sich an wie etwas, das man eigentlich mit Tully und Kulgan bereden müßte.« Er schwieg einen Moment lang, dann fragte er: »Charles, würdet Ihr die Stellung eines Schwertmeisters annehmen?«

Der Tsurani blinzelte, das einzige Zeichen seiner Überraschung. »Ihr ehrt mich, Euer Hoheit.«

»Gut, dann bin ich zufrieden. Fannon wird Euch in Euer neues Amt einweisen, wenn ich abgereist bin.« Martin sah zur Tür und senkte die Stimme. »Ich wünsche Euch beide in meinen Diensten.«

Charles zögerte nicht, seine Zustimmung zu zeigen. Baru blickte Martin tief in die Augen. Auf der Reise zum Moraelin hatten sie einen festen Bund mit Arutha geschlossen. Baru war damals fast ums Leben gekommen, doch das Schicksal hatte ihn noch nicht zu sich gerufen. Baru wußte, sein Leben war seitdem mit jenen verbunden, die gemeinsam auf die Suche nach Silberdorn gegangen waren. Hinter den Augen des Herzogs verbarg sich etwas, doch Baru wollte nicht danach fragen. Er würde es schon noch rechtzeitig erfahren. »Und auch ich will.«

Martin saß zwischen den beiden und fing an zu erzählen.

 

Martin zog den Mantel enger. Der Nachmittags wind kam aus dem Norden und war kühl. Er hatte die ganze Zeit am Heck gestanden und zugesehen, wie Crydee langsam hinter der Landzunge von Seglers Gram verschwunden war. Er nickte dem Kapitän des Schiffes zu und stieg vom Achterdeck die Kajütstreppe hinunter. Als er die Kabine des Kapitäns betrat, verschloß er die Tür hinter sich. Der Mann, der dort auf ihn wartete, war einer von Fannons Soldaten mit Namen Stefan. Er glich in Körpergröße und Statur dem Herzog, und er trug den gleichen Rock und die gleiche Hose wie Martin. Noch vor Anbrach der Dämmerung hatte er sich als gewöhnlicher Seemann gekleidet an Bord geschlichen. Martin zog seinen Mantel aus und reichte ihn dem Mann. »Ihr werdet bis Queg nur in der Dunkelheit an Deck gehen. Sollte das Schiff aus irgendeinem Grund in Carse, Tulan oder den Freien Städten einen Hafen anlaufen müssen, möchte ich auf keinen Fall, daß die Seeleute mein Verschwinden ausplaudern.«

»Ja, Euer Hoheit.«

»Wenn du in Krondor ankommst, wird dort vermutlich ein Wagen auf dich warten. Ich weiß nicht, wie lange du die Maskerade aufrechterhalten kannst. Die meisten Adligen, die ich kennengelernt habe, werden schon auf dem Weg nach Rillanon sein, und wir sind uns ähnlich genug, daß dich die Dienerschaft nicht unbedingt gleich erkennt.« Martin betrachtete seinen Doppelgänger eingehend. »Wenn du nicht allzu gesprächig bist, halten sie dich vielleicht den ganzen Weg bis Rillanon für mich.«

Die Aussicht, eine so lange Zeit einen Adligen spielen zu müssen, behagte Stefan offensichtlich gar nicht, doch er sagte nur: »Ich werde mir Mühe geben, Euer Hoheit.«

Das Schiff schaukelte, als der Kapitän den Kurs ändern ließ. Martin sagte: »Das ist das erste Zeichen.« Schnell zog er sich Stiefel, Rock und Hosen aus, bis er nur noch in Unterwäsche dastand.

Die Kabine des Kapitäns hatte nur ein Fenster, das sich, wenn auch quietschend, öffnen ließ. Martin kletterte halb hinaus und ließ die Beine herabbaumeln. Von oben hörte er die Stimme des Kapitäns: »Ihr kommt zu nah an die Küste! Hart Steuerbord!«

Ein verwirrt klingender Steuermann antwortete: »Aye, Käpt'n, hart Steuerbord.«

Martin sagte: »Möge dich das Glück nicht verlassen, Stefan.«

»Euch auch nicht, Euer Hoheit.«

Martin ließ sich aus dem Fenster fallen. Der Kapitän hatte ihn vor dem großen Ruderblatt gewarnt, doch Martin konnte einen Zusammenstoß damit leicht vermeiden. Außerdem hatte ihn der Kapitän so nah an die Küste gebracht, wie es die Sicherheit des Schiffes erlaubte, und dann in tieferes Wasser gewendet. Der Strand war kaum eine Meile entfernt. Wenn er auch kein herausragender Schwimmer war, so war er doch ein starker Mann, und mit einigen starken Zügen machte er sich auf den Weg. Bei den hohen Wellen würde wahrscheinlich keiner der Leute in der Takelage den Mann bemerken, der da hinter ihnen zurückblieb.

Kurze Zeit später taumelte Martin vollkommen außer Atem auf den Strand. Er sah sich um und orientierte sich. Die Strömung hatte ihn doch weiter nach Süden getrieben, als es in seiner Absicht gelegen hatte. Er holte noch einmal tief Luft und begann zu laufen.

Nach weniger als zehn Minuten kamen drei Reiter über eine niedrige Steilklippe und ritten schnell auf den Sand zu. Als er sie entdeckte, blieb Martin stehen. Garret stieg vom Pferd, Charles hielt ein weiteres Pferd am Zügel. Baru ließ seine aufmerksamen Augen umherschweifen, ob sie vielleicht jemand beobachtete. Garret reichte Martin ein Bündel mit Kleidung. Beim Lauf über den Strand war Martin getrocknet, und er zog sich rasch an. Am Sattel des freien Pferdes hing ein mit Öltuch eingewickelter Langbogen.

Während Martin sich anzog, fragte er: »Hat Euch jemand beim Aufbruch beobachtet?«

Charles erwiderte: »Garret hat die Burg schon vor der Dämmerung mit Eurem Pferd verlassen, und ich habe den Wachen gesagt, ich würde Baru nur ein Stück auf seinem Weg zurück nach Yabon begleiten. Niemand hat eine Bemerkung darüber fallen lassen.«

»Gut. Wie wir bei unserer letzten Begegnung mit Murmandamus' Spionen gelernt haben, steht Geheimhaltung an erster Stelle.« Martin bestieg das Pferd und sagte: »Ich danke Euch für Eure Hilfe. Charles, Ihr und Garret kehrt am besten schnell zurück, ehe jemand Verdacht schöpft.«

Charles sagte: »Was auch immer Euch das Schicksal bringen wird, Euer Hoheit, möge es Euch ebenfalls Ehre bringen.«

Garret sagte nur: »Viel Glück, Euer Hoheit.«

Die vier Reiter ritten los, zwei kehrten über die Küstenstraße zurück nach Crydee, zwei verließen das Meer in Richtung Nordosten, dorthin, wo der Wald lag.

 

Der Wald war ruhig, nur gelegentlich hörte man den Ruf eines Vogels oder eines kleinen Tieres; alles war anscheinend so, wie es sein sollte. Martin und Baru waren seit Tagen scharf geritten und hatten vor einigen Stunden den Fluß Crydee durchquert.

Eine Gestalt trat hinter einem Baum vor. Sie trug einen dunkelgrünen Jagdrock und eine braune Lederhose. Die Gestalt winkte und rief: »Willkommen, Martin Langbogen, Baru Schlangenjäger!«

Martin erkannte die Stimme des Elben sofort. »Sei gegrüßt, Tarlen. Wir kommen, um bei der Königin Rat zu suchen.«

»Dann reitet weiter, denn Ihr und Baru seid stets willkommene Gäste am Hofe der Königin. Ich muß hier Wache halten. Die Lage hat sich verschärft, seit Ihr zuletzt bei uns zu Gast wart.«

Etwas in der Stimme des Elben verriet Martin, daß die Elben beunruhigt waren. Doch Tarlen würde darüber nicht sprechen. Martin mußte schon die Königin und Tomas fragen. Er wunderte sich. Als die Elben das letzte Mal in Sorge gewesen waren, hatte Tomas gerade den Höhepunkt seines Wahnsinns durchgemacht. Martin gab seinem Pferd die Sporen.

Später erreichten die beiden Reiter das Herz des Elbenwaldes, Elvandar, das uralte Heim der Elben. Die Stadt in den Bäumen war von Licht durchflutet, die Sonne stand hoch über dem Wald und versah die massigen Bäume mit einer glänzenden Krone. Ein Baldachin aus grünem und goldenem, rotem und weißem, silbernem und bronzenem Laub erstrahlte über Elvandar.

Als sie abstiegen, kam ein Elb herbei. »Ich soll mich um Eure Pferde kümmern, Lord Martin. Die Königin wünscht Euch sofort zu sehen.«

Martin und Baru eilten die Treppe hinauf, die aus dem Stamm eines Baumes geschlagen war und in die Stadt der Elben führte. Über große Bögen, die auf starken Ästen ruhten, ging es weiter voran. Schließlich kamen sie zu der großen Plattform, die den Mittelpunkt von Elvandar und den Hof der Königin bildete.

Aglaranna saß still auf ihrem Thron, neben ihr saß ihr Erster Berater, Tathar. An den Rändern der Plattform saßen die Älteren Zauberwirker, der Rat der Königin. Der Thron neben ihr war leer. Für die meisten Menschen war das Gesicht der Königin ein Buch mit sieben Siegeln, doch Martin kannte die Elben gut, und er entdeckte eine gewisse Anspannung in Aglarannas Augen. Dennoch sah sie wunderschön und königlich aus, und ihr Lächeln strahlte wie ein Leuchtfeuer. »Seid willkommen, Lord Martin. Und willkommen, Baru von den Hadati.«

Beide Männer verbeugten sich; dann sagte die Königin: »Kommt, wir wollen uns unterhalten.« Sie erhob sich und führte sie, begleitet von Tathar, zu einem Gemach. Drinnen wandte sie sich um und bot den beiden Platz an. Wein und Essen wurde gebracht, doch niemand beachtete die Speisen. Martin sagte: »Etwas stimmt nicht.« Und das war keine Frage.

Aglaranna legte ihr Gesicht sorgenvoll in Falten. Martin hatte sie seit den Zeiten des Spaltkrieges nicht mehr so beunruhigt gesehen. »Tomas ist gegangen.«

Martin blinzelte. »Wohin?«

Tathar antwortete. »Wir wissen es nicht. Er ist einfach des Nachts verschwunden, wenige Tage nach dem Mittsommerfest. Er wandert gelegentlich allein durch die Gegend, doch nie länger als einen Tag. Als er nach zwei Tagen nicht zurückgekehrt war, haben wir die Fährtenleser losgeschickt. Es gab keine Spuren, die aus Elvandar herausführen, was uns nicht überrascht hat. Er hat andere Möglichkeiten des Reisens. Aber auf einer Lichtung im Norden haben wir seine Fußabdrücke gefunden. Und es gab Spuren von einem zweiten Mann, Abdrücke von Sandalen.«

Martin meinte: »Tomas hat sich mit jemandem getroffen und ist nicht zurückgekehrt.«

»Aber es gab auch noch eine dritte Fährte«, sagte die Elbenkönigin. »Und zwar die eines Drachen. Wieder fliegt der Valheru auf dem Rücken eines Drachen.«

»Ihr fürchtet, der Wahnsinn sei zurückgekommen?«

»Nein«, entgegnete Tathar sofort. »Tomas hat sich davon befreit, und er ist stärker, als er selbst weiß. Nein, was uns Sorge bereitet, ist die Art seines Aufbruchs ohne ein Wort. Wir fürchten die Gegenwart eines anderen.«

Martin sah ihn mit großen Augen an. »Die Sandalen.«

»Ihr wißt, welche Macht notwendig ist, um unseren Wald unbemerkt zu betreten. Bislang hat das nur ein einziger Mann geschafft: Macros der Schwarze.«

Martin sann darüber nach. »Vielleicht ist er nicht der einzige. Ich habe gehört, Pug sei auf die Welt der Tsurani gereist, wo er etwas über Murmandamus in Erfahrung bringen wollte, und über jemanden, der dort der Feind genannt wird. Womöglich ist er zurückgekehrt.«

»Welcher Meister der Zauberei es war, ist von geringer Bedeutung«, sagte Tathar.

Als nächster ergriff Baru das Wort. »Jedoch ist es von einiger Bedeutung, wenn zwei Männer mit solchen Fähigkeiten in einer Zeit, in der es im Norden wieder Ärger zu geben scheint, zu einer geheimnisvollen Mission aufbrechen.«

Aglaranna sagte: »Ja.« Dann wandte sie sich an Martin: »Uns sind Gerüchte vom Tode eines Euch nahestehenden Mannes zu Gehör gekommen.« Wie bei den Elben üblich, vermied sie den Namen des Toten.

»Es gibt viele Dinge, über die ich nicht sprechen möchte, auch nicht zu einer so hochangesehenen Dame wie Euch. Ich habe eine Aufgabe zu erfüllen.«

»Dann«, fragte Tathar, »darf ich Euch vielleicht fragen, wohin Ihr unterwegs seid, und was Euch hierherführt?«

»Es ist Zeit, wieder in den Norden aufzubrechen«, erwiderte Martin, »um das zu Ende zu bringen, was wir letztes Jahr begonnen haben.«

»Es ist gut, daß Euch Euer Weg hier entlanggeführt hat«, sagte Tathar. »Wir haben von der Küste bis in den Osten massive Bewegungen von Goblins festgestellt, die alle Richtung Norden wandern. Auch die Moredhel an den Rändern unseres Waldes werden immer dreister. Scheinbar wollen sie herausfinden, ob sich unsere Krieger außerhalb ihrer gewohnten Grenzen aufhalten. Zudem wurden Banden von abtrünnigen Menschen auf ihrem Weg in den Norden gesichtet, und zwar in der Nähe unserer Grenze am Steinberg. Die Gwali sind nach Süden in das Grüne Herz geflüchtet, als fürchteten sie sich vor etwas. Und seit Monaten werden wir immer wieder von einem Wind des Bösen heimgesucht, der seltsame magische Fähigkeiten hat, als würde er Kräfte in den Norden ziehen. Wir sind also über einiges beunruhigt.«

Baru und Martin wechselten einen Blick. »Die Dinge entwickeln sich raschen Schrittes«, sagte der Hadati.

Die Unterhaltung wurde durch einen Schrei von unten unterbrochen, und neben der Königin erschien ein Elb. »Majestät, kommt, eine Wiederkehr.«

Aglaranna sagte: »Kommt Martin, Baru, werdet Zeugen einer wundersamen Sache.«

Tathar folgte seiner Königin und wandte sich noch mal um: »Falls es sich nicht um eine List handelt.«

Weitere Berater stießen zu der Königin und Tathar, während die beiden zum Waldboden eilten. Als sie unten ankamen, wurden sie von verschiedenen Kriegern begrüßt, die um einen Moredhel herumstanden. Der Dunkelelb erschien Martin irgendwie eigentümlich, weil er eine Ruhe ausstrahlte, die für dieses Volk nicht gewöhnlich war.

Der Moredhel sah die Königin und verbeugte sich vor ihr. Leise sagte er: »Meine Dame, ich bin wiedergekehrt.«

Die Königin nickte Tathar zu. Er und die anderen Zauberwirker versammelten sich um den Moredhel. Martin spürte etwas Seltsames, eine Spannung in der Luft, als könnte man Musik hören. Die Zauberer wirkten Magie.

Dann sagte Tathar: »Er ist wiedergekehrt.«

Aglaranna fragte: »Wie ist dein Name?«

»Morandis, Majestät.«

»Nicht länger. Du heißt Lorren.«

Zwischen den Völkern der Elben gab es eigentlich keine großen Unterschiede. Sie wurden nur durch die Macht des Dunklen Pfades getrennt, der die Moredhel zu einem Leben im mörderischen Haß gegen alles verpflichtete, was nicht zu ihrer Art gehörte. Das hatte Martin erst im letzten Jahr erfahren. Ansonsten gab es nur leichte Differenzen im Benehmen und in der Haltung zwischen den beiden Völkern.

Der Moredhel stand auf, und die Elben um ihn herum halfen ihm, den grauen Rock der Waldclans der Moredhel abzulegen. Martin hatte lange Zeit bei den Elben gelebt, er hatte viele Male gegen die Moredhel gekämpft und konnte den Unterschied erkennen. Aber jetzt stießen seine Sinne an ihre Grenzen. In einem Moment erschien der Moredhel noch eigentümlich, im nächsten war er plötzlich kein Dunkelelb mehr. Man gab ihm einen braunen Rock, und wunderbarerweise sah Martin auf einmal einen Elben. Er hatte dunkles Haar und dunkle Augen, aber es gab auch ein paar Elben, die so aussahen, so wie gelegentlich ein Moredhel blonde Haare und blaue Augen hatte. Er war ein Elb.

Tathar hatte Martins Reaktion auf die Verwandlung beobachtet und sagte: »Manchmal bricht einer unserer verlorenen Brüder mit dem Dunklen Pfad. Wenn seine Familie die Verwandlung nicht bemerkt und ihn nicht tötet, bevor er zu uns kommt, begrüßen wir seine Wiederkehr in die Heimat.« Martin und Baru sahen zu, wie alle Elben nacheinander zu Lorren gingen, ihn umarmten und zu Hause begrüßten. »In der Vergangenheit haben die Moredhel auf diese Weise Spione bei uns unterbringen wollen, doch wir können die falschen immer von den richtigen unterscheiden. Dieser hier ist wirklich wiedergekehrt.«

Baru fragte: »Geschieht das häufig?«

»Von allen, die in Elvandar leben, bin ich der Älteste«, erwiderte Tathar, »und ich habe in meinem Leben sieben Wiederkehrer vor diesem gesehen.« Er schwieg einen Moment lang. »Eines Tages, so hoffen wir, werden wir uns auf diese Weise mit allen unseren Brüdern versöhnen, wenn die Macht des Dunklen Pfades endgültig gebrochen ist.«

Aglaranna wandte sich an Martin. »Kommt, wir werden ein Fest feiern.«

»Ich fürchte, wir nicht, Majestät«, antwortete Martin. »Wir müssen aufbrechen, weil wir uns mit anderen treffen wollen.«

»Dürfen wir Eure Pläne erfahren?«

»Ganz einfach«, meinte der Herzog von Crydee. »Wir wollen Murmandamus finden.«

»Und«, fügte Baru trocken hinzu, »wir wollen ihn töten.«